Ein Berg fängt für mich erst dann an, ein Berg zu sein, wenn er aussieht wie ein Berg. Also mit nackten Felsen, kahl, kalt, schroff, mit Schnee ganz oben, abweisend und lockend zugleich. Ich will in die Berge. Die Berge waren schon immer da. Ganz stimmt’s nicht, aber doch beinahe. George Mallory hat auf die Frage, warum er unbedingt den Everest besteigen wolle, geantwortet: „Because it is there.“ Weil er eben einfach da ist. Halte diese Antwort für hinreichend. Ich beneide die, die jeden Tag Berge sehen können.
Archiv des Autors: SirHenry
Herbst
Ganz früh am Morgen zieht sich der Tag noch einen Mantel über. Ich gehe aus dem Haus und stoße Dampfwolken aus. Die Luft knistert vor Frische. Das Laub am Boden raschelt nicht, es ist noch feucht um diese Zeit.
Die Dunkelheit ist zäh. Der Tag muss kämpfen, um zu erwachen. Erste Sonnenstrahlen, viel zu spät, kommen von schräg hinten und beleuchten die Ahornbäume. Nie ist der Baum schöner als zu dieser Jahreszeit. Ganz bestimmt hebt er sich sein Prachtkleid fürs Finale auf. Die Blätter erstrahlen in allen Farben vom leuchtenden Gelborange bis zum kitschigsten grandiosen Prunkrot. Kinder sammeln sie und basteln daraus große Laubsträuße.

Pilze
„Hier sieht’s gut aus, meinste nicht?“
„Hm. Nicht so richtig pilzig hier. Die Bäume sind nicht richtig. Außerdem riecht es gar nicht nach Pilzen.“
Schweigen. Drei Kilometer weiter.
„Und hier?“
„Weiß nicht…“
Weiterfahrt. Noch ein kleines Dorf. Das erste Haus ist knallorange angepinselt, das letzte in einem schreienden Blau gehalten. Auch ein Rahmen, denke ich.
Wieder Wald. Halb in einer Baumlücke verborgen steht ein Auto. Berliner Kennzeichen. Die sind also auch auf der Jagd. Da sind doch auch Leute daneben, mit Körbchen.
„Kannste was sehen? Ist in den Körben was drin?“
„Nee, die sind leer.“
Gehen die gerade los oder kommen die erfolglos zurück? Aussteigen und fragen? Ach was, die würden schön dumm gucken, wenn wir sie jetzt anquatschen würden.
„Ist bestimmt noch zu früh für Pilze. Das bisschen Regen vor ein paar Tagen reicht doch nicht. Oktober wäre besser.“
„Ja, aber heute ging es eben. Wenn dann erst wieder Oktober ist; wer weiß ob wir es dann schaffen.“
Eine breite Schneise zieht sich quer durch den Wald, in der Mitte Hochspannungsmasten. Die Straße ist rau. Seit wir vor einer Viertelstunde von der Hauptroute abgebogen sind, ist fast kein Verkehr mehr zu sehen.
„Aber hier! Hier sieht’s gut aus“. Ich schreie fast. Schweigen auf der anderen Seite. Egal, sage ich mir, hier sieht es gut aus. Hier muss es was geben. Rechts ran.
„Nein, nicht die Gummistiefel. Ist doch trocken.“
Körbchen, Messer. Alles da. Rein ins Gesträuch.
Erste Enttäuschung. Ich will schon nach zehn Schritten wieder umdrehen. Der ganze Boden voller Blaubeerenbüsche. Das gab‘s ja noch nie, dass man zwischen Blaubeeren gute Pilze findet.
Ich gehe weiter. Da liegt ein Joghurtbecher, ziemlich frisch. Ich frage mich zum hundertsten Mal, was für Menschen hier mitten im Wald ihren Müll wegwerfen.
Weiter.
Da! Ist das ein Blatt? Ein Stück Kiefernrinde? Nein, da steht ein Pilz. Wunderschön, eine feste dunkelbraune Kappe. Nur ein Grashalm liegt quer oben drauf. Ich will Hurra! schreien, verkneife es mir aber lieber.
Vorsichtig jetzt. Wo einer ist, sind auch andere. Man könnte drauftreten. Also, langsam anschleichen. Drauf achten, wo man hinsteigt.
Jetzt erbeute ich das gute Stück. Der erste Blick unten drunter. Schön gelb-grün und fest. Nun stehe ich breitbeinig über dem Fundort wie einst der Koloss von Rhodos über der Hafeneinfahrt. Während ich den Pilz putze lasse ich meinen Blick rundum schweifen. Wo haben sich die anderen Biester versteckt? Da ist einer und noch einer. Ich fühle mich wie ein Kind beim Ostereiersuchen.
Später am Abend liegen wir rund und satt auf der Couch. Es geht uns gut.